Kalenderblatt
28. September

Frau Surbier ist irritiert. Im Traum verfolgt sie ein Engel

Kalenderblatt vom 28. September
“Frau Surbier ist irritiert. Im Traum verfolgt sie ein Engel”
“Ms. Surbier is irritated. An angel is persecuting her in the dream”
“Doña Surbier está confundido. Un angelo esta persiguiendola en el sueño”

Tusche auf Aquarellpapier ca. 15 x 21 cm

Bereits der Titel öffnet einen Raum, in dem wir uns zwischen Ironie, Poesie und metaphysischem Aufruhr bewegen. Das Blatt in Tusche auf Aquarellpapier wirkt auf den ersten Blick leicht, skizzenhaft, fast beiläufig hingeworfen und doch ist es genau diese scheinbare Flüchtigkeit, die den Sog erzeugt.

Spontan tauchen Emotionen von Verwunderung, Irritation und leiser Heiterkeit auf. Man spürt zugleich eine Unruhe, ein Knistern zwischen einem unsichtbaren Drängen und einem feinen Widerstand. Die Atmosphäre ist lebendig und träumerisch, aber sie kippt immer wieder ins Dramatische, so als würde ein unsichtbares Gewicht auf den federleichten Linien lasten.

Die Geschichte, die hier aufscheint, ist die einer Frau, die sich in den Abgründen ihrer Träume bewegt. Der Engel – traditionell Symbol für Schutz, Licht, das Göttliche – wird hier zum Verfolger, zum bedrohlich Schönen, der sich nicht abweisen lässt. In dieser Verdrehung des Bekannten entsteht die Magie: das Licht als Last, die Geborgenheit als Verunsicherung. Jeder Strich stellt die Frage: Was, wenn das, was mich erlösen soll, mich zugleich beunruhigt?

Das Werk erlaubt viele Deutungsebenen: emotional berührt es das Gefühl von Zerrissenheit zwischen Hingabe und Widerstand; spirituell lässt es an die Dialektik zwischen göttlicher Nähe und menschlicher Angst denken; sozial könnte es als Kommentar verstanden werden, wie die Gesellschaft mit „Engeln“, seien es Autoritäten, Ideologien oder Heilsversprechen, umgeht; politisch mag es gar die Frage aufwerfen, ob jede Form von „Verfolgung im Namen des Guten“ nicht immer auch eine Form der Unterdrückung bleibt.

Das Bild selbst stellt provozierende Fragen: Ist Irritation nicht der erste Schritt zu Erkenntnis? Brauchen wir den Engel, der uns verfolgt, damit wir überhaupt in Bewegung kommen? Und: Wo endet der Traum, wo beginnt die Realität?

Die Originalität des Werkes liegt nicht in einer spektakulären Form, sondern in der Verkehrung des Erwarteten. Das Vertraute, Engel, Linien, Symbole,  wird in ein neues Spannungsverhältnis gesetzt. Dadurch fühlt sich das Blatt zugleich vertraut und radikal neu an, als sei es ein Fragment aus einem Traum, den man selbst schon einmal hatte, aber nie so klar greifen konnte.

Gerade in seiner Reduktion auf wenige Striche entfaltet dieses Werk die ganze Kraft des Beuys’schen Prinzips der Energie: die Linie ist nicht Dekoration, sie ist Handlung, sie ist Schicksal. Dieses Bild ist kein stilles Objekt, es ist ein Prozess, eine Bewegung, ein Ringen. Wer es besitzt, holt sich nicht bloß ein Kunstwerk ins Haus, sondern ein Stück lebendige Frage, die jeden Tag neu gestellt wird.

Das Sammlerstück fordert heraus, rührt an, irritiert und genau deshalb wird es nicht verblassen. Es ist ein Gesprächspartner, ein Spiegel, ein Engel im eigenen Raum.

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